Kölle alaaf

oder

Eimol Prinz ze sin

Kurzgeschichte

 

 

 

Karnevalsodyssee eines Imis*

Es muss so gegen halb acht Uhr morgens gewesen sein, als ich meine erste Begegnung mit dem kölschen Karneval hatte. Der Novemberhimmel war noch düster und es herrschte klirrende Kälte. Dick eingemummelt in meinen Wintermantel und mit einem dicken Wollschal vor dem Gesicht ging ich, zu dieser frühen Stunde noch nicht richtig wach, raschen Schrittes durch die Kölner Innenstadt zur Arbeit. Ich wollte gerade auf den Alter Markt einbiegen, da traf mich fast der Schlag: Wo sonst im frühen Morgengrausen nur vereinzelte, verschlafen dreinblickende Gestalten über den Platz hasteten, waren auf einmal Hunderte bunt gekleideter, fröhlicher Jecken* um eine Bühne und eine Handvoll Fressbuden versammelt, sangen Lieder und prosteten sich mit frisch gezapftem Kölsch zu. In meinem Kopf begann es zu rattern, doch es dauerte einige Schrecksekunden, bis der Groschen fiel: Natürlich! Ich Ignorant! Es war der 11.11.! Auftakt der so genannten Session*. Aber hieß es nicht immer „am 11.11. 11 Uhr 11“? fragte ich mich verwirrt, während ich meinen Weg fortsetzte. Auf eine Antwort musste ich nicht lange warten, klärten mich doch meine Kollegen bereitwillig auf, dass sich eingefleischte Hardcore-Karnevalisten stets schon Stunden vorher am Ort des Geschehens zusammenrotten, wohl wissend, dass der Platz nicht selten gegen zehn Uhr wegen Überfüllung von der Polizei gesperrt wird. Karneval in Köln – das musste unbedingt mal live miterlebt haben, schwärmten sie mir mit glänzenden Augen vor, und während die als Clown verkleidete Sekretärin auf einem Wägelchen ein Pitternännche* und Tütenweise Krapfen durchs Büro rollte, ließen meine karnevalswütigen Kollegen ihre geballten Karnevalserlebnisse auf mich niederprasseln und allmählich reifte auch in mir die Erkenntnis, dass dies kein gewöhnlicher Arbeitstag werden würde.

Ich war damals gerade Mal seit zwei Wochen in der Firma, wohnte erst seit zwei Wochen im Rheinland, genauer gesagt in Köln-Nippes, und war damit in den Augen der Kölner ein waschechter Imi. Zu meiner Erleichterung wird dies in Köln keineswegs als Makel betrachtet, ganz im Gegensatz zu meiner schwäbischen Heimat, wo einem auch nach jahrelanger Ortsansässigkeit noch der negative touch des „Neig’schmeckten“ anhaften kann. In Köln steht spätestens nach ein paar Gläsern Kölsch einer Verbrüderung nichts mehr im Wege, was mir schon bei meinem Einstand positiv aufgefallen war.

Dass der 11.11. für den Rheinländer ein markantes Datum ist, war selbst mir als Karnevals-, oder wie der Süddeutsche sagt: Faschings-Muffel, bekannt. Zwar hatte ich mir früher als kleiner Junge stundenlang die Rosenmontagsumzüge aus Mainz, Köln und „der verbotenen Stadt“ (gemeint ist Düsseldorf) im Fernsehen antun können, aber wohl hauptsächlich deswegen, weil gerade Faschingsferien waren, alle andern außer unserer Familie zum Skifahren in die Berge gefahren waren und ich miesepetrig und zu Tode gelangweilt zu Hause saß. Wenn ich dann all die verkleideten, rheinischen Kinder mit ihren Plastiktüten voller Süßigkeiten sah, wurde ich direkt ein bisschen neidisch, was meine Laune nicht gerade besserte. Insbesondere ist mir das Bild eines Jungen im Gedächtnis hängen geblieben, der etwa in meinem Alter gewesen sein mochte und in einer (zugegebenermaßen etwas albernen) Prinzenverkleidung hoch oben auf einem der Festwagen thronte, mit gebieterischem Gesichtsausdruck dem Fußvolk zuwinkte, und hier und da eine Handvoll Süßigkeiten in die Menge fallen ließ, die gierig die Hände danach ausstreckte. Wie gerne wäre ich damals mit dabei gewesen! Natürlich nicht als gewöhnlicher Zuschauer, der in irgendwie entwürdigender Art und Weise Almosen von der Straße aufklaubte, nein, sondern als Prinz, als Herr der Süßigkeiten. Doch leider gab es damals im Schwabenland weit und breit keinen Faschingsumzug, geschweige denn einen Faschingsprinzen und Süßigkeiten wurden schon gar nicht verschenkt. Zum Glück waren diese freudlosen Faschingstage meiner schwäbischen Kindheit immer wieder rasch überstanden und ebenso schnell wieder vergessen.  Über die Ausmaße des Geschehens in Köln als der Hochburg des rheinischen Karnevals (alle Mainzer und Düsseldorfer werden mich jetzt steinigen wollen) hatte ich mir weder damals noch irgendwann großartig Gedanken gemacht, auch wenn ich zugeben muss, in späteren Jahren ab und zu doch mal vom Fernsehsessel aus in die eine oder andere Sitzung reingezappt zu haben (wahrscheinlich an einem von Single-Frust geprägten, todlangweiligen Samstagabend, an dem keine wirkliche Alternative zur Auswahl stand). Nun aber hatte sich meine Ausgangssituation grundlegend gewandelt: Ich war Neu-Kölner oder Imi und befand mich auf einmal mitten im Zentrum des Geschehens. Pünktlich um 11 Uhr 11 hielt somit auch ich ein frisch gezapftes Kölsch in der Hand und sah das Klischee bestätigt, dass der Kölner an sich faul und stets damit beschäftigt ist, sich Gründe auszudenken, um nicht arbeiten zu müssen und sich besaufen zu können, was mir nicht unbedingt unsympathisch erschien.

Der Rest dieses denkwürdigen Tages entzieht sich, wie ich im Nachhinein leicht beschämt gestehen muss, weitestgehend meiner Erinnerung (ich bin eben doch noch kein richtiger Kölner, der das eher auf die leichte Schulter nehmen würde). Ich weiß nur noch, dass ich am nächsten Morgen mit dröhnendem Schädel (Kopping, wie der Kölner sagt), kratzigem Hals und schmerzenden Knien erwachte – zum Glück in meinem eigenen Bett und zum Glück (oder leider?) allein. Stöhnend schlug ich die Bettdecke zurück und musste erschrocken feststellen, dass beide Knie aufgeschlagen und Blut verkrustet waren. Mein Gott, wie bin ich bloß nach hause gekommen? fragte ich mich entsetzt. Dann wurde mir plötzlich speiübel und ich schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette, wo ich mehr oder weniger den Rest des Tages zubrachte. Kein guter Start in die Session. Anfänger eben. Die verbleibende Woche war ich krank geschrieben, was mir natürlich ziemlich peinlich war. Doch noch peinlicher wäre es mir gewesen, völlig verkatert und mit dem fetten Brillenhämatom, das unerklärlicherweise mein Gesicht zierte, im Büro zu erscheinen und mich womöglich spöttischen Kommentaren auszusetzen. So beschloss ich reumütig, die restliche Session mit Nichtbeachtung zu strafen und weitestgehend karnevals- und alkoholabstinent zu bleiben - sofern ein solcher Vorsatz in dieser Stadt überhaupt praktikabel ist.

Immerhin dauerte es knapp zwei Monate, bis ich rückfällig und erneut vom Karnevalsfieber gepackt wurde. Meine Kollegen hatten mir zu meinem Geburtstag Anfang Januar ihre gesammelten Karnevalslieder als MP3s geschenkt und dazu sämtliche Liedtexte auf dem Bürodrucker ausgedruckt. Ich erkannte den Wink mit dem Zaunpfahl, stand doch in Bälde der Höhepunkt des Karnevals bevor und man plante, sich gemeinsam auf eine Karnevalssitzung in die Köln-Arena auf der schäl Sick* zu wagen und von Wieverfastelovend* bis zur Nubbelverbrennung* möglichst durchzufeiern (s. Klischee „der Kölner an sich“).  Also übte ich. In jeder freien Minute spielte ich die Lieder rauf und runter, las eifrig die Texte mit und versuchte, mir zumindest die Refrains zu merken. Die kölsche Mundart war mir glücklicherweise nicht ganz fremd, war ich doch in meiner rebellischen Phase, so mit fünfzehn, sechzehn etwa, Bap-Fan gewesen und hatte von da her noch einiges an kölschem Wortschatz im Hinterkopf, wenn auch der Vokabular-Schwerpunkt gegensätzlicher nicht hätte sein können. Bis zur Sitzung in der Köln-Arena Anfang Februar hatte ich tatsächlich ein bescheidenes, aber wie ich meinte erlesenes, Repertoire einschlägiger Karnevals- und Kölnhymnen parat und Gassenhauer wie „Viva Colonia“, „Drink doch eine met“ oder „Eimol Prinz ze sin in Kölle am Rhing“ gingen mir ohne Verhaspler von den Lippen. Die Veranstaltung versprach also ein voller Erfolg zu werden. Das wurde sie zunächst auch. Meine Kollegen zeigten sich sichtlich beeindruckt von meinen Fortschritten im heimischen Liedgut und sogar mein nicht ganz so originelles Piratenkostüm fand leidlich Anerkennung. Ermuntert von dem in der Halle allseits praktizierten Karnevalsbrauchtum des Bützje* und Stippeföttche* und nicht zuletzt vom Konsum diverser „Feiglinge“ war ich bald gelöster Stimmung, hielt eine blonde Nixe im Arm und fühlte mich wie ein Prinz. Alles verlief also viel versprechend - bis der Bombenalarm kam. Wie der „Kölner Express“ (Kölner „Bild“-Äquivalent) am folgenden Tag titelte, hatte sich das Ganze im Nachhinein als übler Scherz eines ganz besonders lustigen Jecken oder eines ausgesprochenen Karnevalshassers entpuppt. Doch es hatte genügt, um mehreren Tausend Karnevalisten einen lustigen Abend zu vermiesen. Die Halle wurde von der Polizei evakuiert und die feucht-fröhliche Veranstaltung war abrupt beendet. Sowohl die Kollegen als auch meine Augenklappe verlor ich im Gedränge, ebenso die hübsche Nixe. Ich tröstete mich damit, dass der eigentliche Höhepunkt der Session ja noch bevorstand, besorgte mir im Karnevalsladen eine neue Augenklappe und harrte auf Weiberfastnacht. 

Der Arbeitstag begann ähnlich wie der Sessionsauftakt, nur eine Spur verschärfter: Schon früh am Morgen belebten kostümierte Menschen die Straßen und Bahnen und weder das mit bunten Luftballons und Luftschlangen geschmückte Büro noch die verkleideten Kollegen erweckten auch nur im Entferntesten den Anschein, als beabsichtige jemand ernsthaft, an diesem Tag zu arbeiten (s. Klischee „der Kölner an sich“). Allein ich hatte für den Nachmittag einen Termin aufgedrückt bekommen – natürlich von einem dem Kölschen Brauchtum gegenüber völlig ignoranten Kollegen unserer Essener Geschäftsstelle. Verzweifelt musste ich mit ansehen, wie meine Kollegen nach und nach in den ersten Stock verschwanden, wo die offizielle Firmenfeier stattfand. Schließlich blieb nur ich vor meinem Rechner sitzend übrig und versuchte lustlos, mich auf das anstehende Meeting vorzubereiten, was angesichts des Partylärms nahezu unmöglich war. Dankbar nahm ich das eine oder andere Kölsch an, das mitfühlende Kollegen netterweise ab und an zu mir herunter brachten, und ließ mich zähneknirschend bemitleiden.

„Du hast doch nicht etwa Bier getrunken?“ lautete die erste Frage des Essener Kollegen, als er eine gute halbe Stunde zu spät eintraf. Das Bürogebäude war inzwischen längst verwaist, außer mir war die komplette Belegschaft in Richtung Innenstadt zum Feiern ausgeschwärmt. So freundlich wie möglich wies ich ihn auf das heutige Datum hin, wofür ich jedoch lediglich ein verständnisloses Gesicht meines Gegenübers erntete. So verzichtete ich auf nähere Erklärungen und setzte alles dran, dieses Treffen möglichst rasch hinter mich zu bringen, um dann so schnell wie möglich meinen Kollegen folgen zu können. Doch all meinen Bemühungen zum Trotz wurde ich ihn erst am späten Nachmittag los. Hastig warf ich mich in mein Piratenkostüm, trank den abgestandenen Rest aus einem im Foyer abgestellten Kölschglas, spuckte die Hälfte davon draußen wieder aus und rannte zur Haltestelle, in die gerade eine Bahn einfuhr. Der Zug war bereits rappelvoll mit verkleideten Menschen, die von innen gegen die Scheiben gedrückt wurden, doch mit dem letzten Mut der Verzweiflung gelang es mir gerade noch, mich irgendwie noch dazu zu quetschen. Eine Fahrkarte an einem der Automaten im Wageninnern zu lösen stufte ich von vorneherein als aussichtsloses Unterfangen ein, und so fuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben schwarz, was zum Glück folgenlos blieb. Mein Gegenüber, oder besser gesagt: mein siamesischer Zwilling in Gestalt eines Seeräubers, dessen mächtiger Brustkorb innerhalb weniger Sekunden mit meiner Schulter verschmolzen zu sein schien, bot mir mit dröhnendem Lachen einen Kurzen an, den ich dankend annahm, sobald ich einen Arm aus der schwitzenden Masse der zusammen gepressten Leiber befreien konnte. Wie wir die Fahrt zum Chlodwigplatz überlebten, ist im Nachhinein kaum nachvollziehbar. Es war so eng, dass es schmerzte (vor allem mein rechter Fuß, der immer wieder von einer Pipi Langstrumpf in Doc Martens malträtiert wurde), der Seeräuber roch wie richtige Seeräuber wohl riechen mögen, es war so heiß, dass die Scheiben von innen beschlugen und die Bahn kam so gut wie nicht voran, da die Straßen und Haltestellen hoffnungslos mit Menschen überfüllt waren (es wurde bereits darüber spekuliert, ob die Polizei dieses Mal gleich die ganze Innenstadt wegen Überfüllung gesperrt hatte). An jeder Haltestelle versuchten neue Fahrgäste, in den Zug hinein zu drängen, was einigen sogar gelang, doch dann ließen sich die Türen ewig lange nicht schließen, was der Fahrer irgendwann nur noch mit einem entnervten „Ich hab Zeit“ kommentierte. Jedenfalls dauerte die sonst knapp zehnminütige Fahrt letztendlich locker das Fünffache und alle waren heilfroh, als wir endlich den Chlodwigplatz erreichten, wo sich die Bahn dann auch zu 99% leerte. Den Umzug durch die Südstadt hatte ich inzwischen verpasst, doch der Straßenkarneval lief noch auf Hochtouren und die Autofahrer, die dennoch todesmutig von der Rheinuferstraße auf das winzige, von feiernden Jecken überquellende Rondell des Chlodwigplatzes zugefahren kamen, mussten entweder wahnsinnig sein oder aus Essen kommen (wobei Essen hier lediglich stellvertretend für alle nicht-karnevalistischen Städte stehen soll!). Nach längerem Kampf hatte ich dann auch endlich eine Flasche Kölsch an einem Kiosk erstanden und ließ mich einfach durch das bunte und laute Geschehen treiben. Doch wie nun meine Kollegen finden? Das Handy erwies sich als vollkommen nutzlos, da entweder das Netz versagte oder kein Wort zu verstehen war, auf eine Antwort auf meine SMS wartete ich vergebens. Anscheinend waren die Kollegen zum geschriebenen Wort schon nicht mehr fähig. So wandelte ich eben allein und doch nicht allein durch den brasilianisch anmutenden Trubel, sang die kölschen Lieder mit, wo immer welche angestimmt wurden, erntete diverse Bützje von völlig entfesselten Weiberscharen und frönte genüsslich dem Kölsch und sonstigen Alkoholika, die mir von allen Seiten geradezu aufgedrängt wurden.

Wohlweislich hatte ich den folgenden Freitag frei genommen, und das war auch gut so, denn mein Gesicht im Spiegelbild erschien mir am nächsten Morgen allenfalls wie eine schlechte Halloween-Maske. Ich beschränkte mich darauf, am Abend nur „mal eben“ in einer Kneipe in meinem Veedel* vorbeizuschauen (wo natürlich auch Ausnahmezustand herrschte, so dass aus dem „mal eben“ mehrere kurzweilige Stunden wurden inklusive dem Austausch von Handynummern mit einer netten Biene Maja) anstatt direkt wieder so richtig op Jöck*zu gehen. Das hob ich mir für die kommenden Tage auf, wo ich Freunde aus dem Schwabenland erwartete, um ihnen den kölschen Karneval zu zeigen. 

Am Sonntag verspürte ich erste Anzeichen von Mattigkeit, als wir uns nach einem späten Frühstück auf dem Weg zu den „Schull- und Veedelszöch“ machten. Gegen die eisige Kälte half auch der mitgebrachte Wodka kaum und mein „leichter Bieranzug“ sorgte dafür, dass ich am ganzen Leib zitterte. Doch mein Besuch amüsierte sich königlich und forderte unermüdlich Kamelle* und Strüßjer* von den Pänz* und Stammtischbrüdern und -schwestern ein. In Anlehnung an meine Kindheitserinnerung hielt ich Ausschau nach einem kleinen Prinzen, doch leider vergeblich. Stattdessen musste ich mich mit dem Anblick eines bierbäuchigen Dreigestirns* begnügen, dessen Prinz und Bauer ihre dicken Froschschenkel in hautengen Strumpfhosen schamlos der Öffentlichkeit präsentierten.

Am Rosenmontag weckte mich gegen halb zwölf das Klingeln meines Weckers. Ich schreckte aus meinem Bett hoch und mein erster entsetzter Gedanke war: Oh nein, wir müssen gleich schon wieder los, Bier trinken – d’r Zoch kütt*! Gesagt, getan. Rein in das mittlerweile leicht ramponierte Kostüm, schnell beim Bäcker ein belegtes Brötchen als Grundlage und ein Kölsch vom Türken an der Bude geholt und nichts wie raus auf die Straße. Karneval kann ganz schön anstrengend sein, dämmerte es mir allmählich und fast beneidete ich die Menschen in Essen und anderswo, die zu diesem Zeitpunkt in ihren Büros saßen und womöglich erleichtert waren, heute ihre Ruhe vor lästigen Kölner Kollegen oder Kunden zu haben. Doch nach dem ersten Schluck Kölsch verwarf ich diesen ketzerischen Gedanken sofort wieder und stürzte mich ergeben in die Massenveranstaltung.

Tja, und ganz am Schluss des Zuges entdeckte ich ihn dann doch noch, den kleinen Karnevalsprinzen aus meiner Kindheit. Natürlich war es nicht derselbe Junge, aber wie damals auch ein etwa acht- bis zehnjähriger Knirps, der von seinem Wagen erhaben in die Menge herabblickte und Kamelle auf das Publikum nieder regnen ließ. Ja ja, eimol Prinz ze sin, ging es mir durch den Kopf. Freundlich lächelnd winkte ich ihm zu, erhaschte dadurch irgendwie für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit und wurde gnädig mit einem Kaubonbon bedacht, das mich unerwartet hart an der Stirn traf, bevor es vor mir auf das Straßenpflaster fiel. Dankbar und allenfalls leicht schwankend bückte ich mich, hob es auf und steckte es in meine Jackentasche.

Sentimentalerweise habe ich es nie gegessen, sondern bis heute darin aufbewahrt, als Erinnerung an meinen ersten Kölner Karneval. Das Einwickelpapier ist mittlerweile untrennbar an seinem süßen Inhalt festgeklebt und die eine oder andere Wäsche hat das Ganze in einen unansehnlichen Klumpen verwandelt, doch das stört mich nicht. Auch nicht, dass ich die Nubbelverbrennung am folgenden Abend verpasst habe, da ich die restliche Woche krank das Bett hüten musste. Doch selbst das wurde mir versüßt, und zwar durch die liebevolle Pflege einer Biene namens Maja, die übrigens wirklich Maja heißt und meinem Single-Dasein endlich ein glückliches Ende bereitet hat. 

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Fußnoten:

Imi  Neu-Kölner
Jecken Jeck sein ist in Köln nichts Anrüchiges, an Karneval sind alle mehr  oder weniger jeck und auch in der übrigen Zeit gehört das Wort zur Umgangssprache
Session Im rheinischen Karneval die Festperiode vom 11. November bis zum Aschermittwoch; nicht englisch auszusprechen
Pitternännche Ein kleines Fässchen Kölsch, ca. 10-12l
Schäl Sick Abwertende Bezeichnung für die rechte Rheinseite
Wieverfastelovend Weiberfastnacht, der Tag der Frauen
Nubbelverbrennung Nubbel = eine zurechtgemachte Strohpuppe, die ab dem 11.11. in vielen urkölschen Kneipen steht. In der Nacht zum Aschermittwoch werden die Nubbel und mit ihnen sämtliche begangene Karnevalssünden und Verfehlungen feierlich verbrannt – der Nubbel war halt an allem Schuld
Bützje Im Karneval freigiebig vergebene Küsschen
Stippeföttche Funkentanz, bei dem man paarweise Rücken an Rücken in der Kniebeuge steht und das Hinterteil zur Musik hin und her bewegt
Veedel Das jeweilige Stadtviertel, in dem der Kölner zu Hause ist. Jedes Veedel hat sein besonderes Flair und die meisten Kölner haben eine enge Bindung an „ihr“ Veedel
op Jöck Unterwegs sein
Kamelle Sammelbegriff für alle Süßigkeiten, die im Zug geworfen werden
Strüßjer Blumensträußchen, ebenfalls im Zug geworfen
Pänz

Kinder

Dreigestirn Das Kölner Dreigestirn, bestehend aus Prinz, Bauer und Jungfrau, ist oberster Repräsentant des Kölner Karnevals
Schull- und Veedelszöch Umzüge am Karnevalssonntag, an denen Schulen und einzelne Veedelsvereine teilnehmen
 

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© Silke

 

 

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