Frühling

Kurzgeschichte

 

 

 

Vergangenen Frühling ereignete sich direkt vor meinen Augen eine Geschichte, die mir in ihrer Einfachheit und scheinbaren Bedeutungslosigkeit sehr nahe ging, so nahe, dass ich sie auch heute noch wie einen Film vor meinem geistigen Auge Revue passieren lassen kann. Obgleich ich die Miniaturtragödie sofort als solche erkannt hatte, griff ich nicht in die Handlung ein, sondern blieb passiver Beobachter. Ich fühlte einfach, dass dies nicht die mir zugedachte Rolle war, spürte, dass ich nicht dazu berufen war, einzugreifen. Ich war dazu bestimmt - wenn nicht sogar verdammt - Statist zu sein, Zuschauer zu bleiben, und der Handlung ihren freien Lauf zu lassen.

Ich wohnte damals noch in einem winzigen Zimmer in der ersten Etage eines alten Studentenwohnheims aus den Sechziger Jahren. Der Raum war knapp neun Quadratmeter klein und bot gerade ausreichend Platz für eine spartanische Einrichtung, bestehend aus Bett, Schreibtisch, Stuhl, Regal, Kleiderschrank und Waschbecken. Das Fenster befand sich direkt über dem Hauseingang zur Rheinpromenade hin. Direkt davor stand mein Schreibtisch, an welchem ich an jenem Nachmittag saß und mich mit einem Referat abquälte. Es war der erste richtig schöne Frühlingstag im noch jungen Jahr: Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel herab und leckte gierig nach den letzten vereinzelten Schneespuren, die sich hartnäckig an einigen geschützten Schattenstellen gehalten hatten. Die noch winterkahlen Bäume in den Alleen ließen neue Triebe und Knospen hervor sprießen, Vögel zwitscherten und in der Luft tanzten erste Insekten.

Immer wieder sah ich von meinem Notebook auf und genoss die Aussicht auf den in der Sonne glitzernden Fluss vor der märchenhaft anmutenden Kulisse des Siebengebirges, aus welchem der Drachenfels mit seiner Burgruine wie ein vorwitziger Zahn herausragte. Erst als ich mich an dem Panorama satt gesehen hatte, bemerkte ich auf dem schmalen Grünstreifen, der die Uferpromenade in Fuß- und Radweg unterteilte, einen weiteren Blickfang: Dort stand inmitten öden Gestrüpps ein stattlicher Fliederbusch, der mit seinen violettfarbenen Blüten der ansonsten noch recht eintönigen Landschaft einen wohltuenden Farbtupfer verlieh. Fortan blickte ich immer wieder von meiner Arbeit auf und weidete mich an den Farben dieser Blüten. Ich meinte sogar, durch das geöffnete Fenster einen Hauch ihres Duftes in meinem Zimmer riechen zu können.

Als ich gerade wieder einmal gedankenverloren innehielt, bemerkte ich auf der Uferpromenade eine alte Frau daherkommen, deren verhärmter Gesichtsausdruck mir trotz der räumlichen Entfernung sofort ins Auge fiel. Ihr weiß-graues Haar war im Nacken zu einem nachlässigen Knoten gebunden, ihre Bluse schien farblos oder verwaschenen, das Blumenmuster ihres Rockes machte einen verwelkten Eindruck. In der Hand trug sie eine Plastiktüte einer Billigsupermarktkette. Das Auffallendste aber waren die wie nagelneu aussehenden, rot-gelben Sportschuhe, die so gar nicht zu ihrem Alter, ihrer schleppenden Gangart und ihrem sonstigen Äußeren passen wollten. Ich wollte mich schon wieder auf mein Referat konzentrieren, da machte sie plötzlich vor dem Busch Halt und sah sich verstohlen nach allen Seiten um. Dann begann sie, sich unbeobachtet fühlend, mit ihrem Teufelswerk: In aller Seelenruhe knickte sie gnadenlos einen Blütenzweig nach dem anderen ab - die violette Pracht, so schön, so jung, so wehrlos. Mir stockte der Atem. Zugleich spürte ich, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitete, als sei plötzlich ein eisiger Windhauch in den Raum gelangt. Ich erhob mich und legte mir eine Strickjacke um die Schultern, den Blick dabei wie hypnotisiert auf das Geschehen draußen vor dem Fenster geheftet.

Kurz darauf kam von links eine kleine, zierliche Frau mit dynamischen Schritten des Weges. Sie mochte vielleicht Mitte dreißig gewesen sein, hatte ein schmales, von kinnlangem, braunem Haar umrahmtes Gesicht, und trug einen eleganten hellgrauen Hosenanzug. An ihrer linken Schulter baumelte eine lederne Umhängetasche. Unwillkürlich drängte sich mir der Vergleich mit einer grauen Maus auf. Im Näherkommen taxierte sie die alte Frau und verlangsamte ihre Schritte. Schließlich blieb sie stehen und richtete das Wort an sie. Auf die Entfernung konnte ich nicht verstehen, was gesprochen wurde, Mimik und Gestik ließen jedoch darauf schließen, dass die eifrige Pflückerin zurechtgewiesen wurde. Ich wollte schon aufatmen, musste aber feststellen, dass die Übeltäterin so leicht nicht zu stoppen war: Stur kehrte sie der grauen Maus den Rücken zu und fuhr unbeirrt mit ihrer Tätigkeit fort. Missbilligend schüttelte die Maus den Kopf, blieb noch einen Augenblick hilflos dreinblickend stehen und setzte dann ihren Weg fort.

Inzwischen hatte die alte Frau eine beträchtliche Menge an Blütenzweigen des zuvor so prächtigen Fliederbusches abgeerntet. Doch als sei dies noch nicht genug, besaß sie auch noch die Dreistigkeit, sich durch das kahle Gestrüpp zu zwängen, um auch den seitlichen Zweigen den Garaus zu machen. Der Strauß in ihren Händen hatte bereits einen Umfang erreicht, der nicht mehr schön zu nennen war. Die maßlose Fülle beraubte die Blüten geradezu ihrer einstigen Anmut und Einzigartigkeit. Es erschien mir, als wäre in ihren Armen ein neuer Fliederbusch geboren, dessen Farben in ihren Händen jedoch geradezu dahin zu sterben schienen. Was die alte Frau letztendlich im Arm hielt war nur mehr ein farb- und seelenloses Etwas, ein Spiegelbild ihrer selbst. Schließlich war ihre Gier gestillt und sie machte sich mit der Trophäe ihres ruhmlosen Sieges davon. Zurück blieb eine geschändete, blutende Kreatur, ihres einstigen Glanzes und ihrer Schönheit beraubt. Allein ganz oben auf der Buschkrone ragten wie zum Trotz noch vereinzelte, violette Blütenzweige aufrecht gen Himmel, als symbolisierten sie vage Hoffnung, Mahnung und Drohung zugleich.

Kurz nach dem Abgang der Blütenmörderin betrat ein junges Mädchen die Bühne des Geschehens. Sie trug blaue Jeans zu einem hellblauen, bauchfreien Oberteil und ihre langen, kastanienfarbenen Locken tanzten im Rhythmus ihres Gangs schwungvoll auf und ab. Auf einmal drehte sie den Kopf in meine Richtung, hob die Hand zum Gruß und lächelte. Meint sie etwa mich? Kann sie mich denn durch das Fensterglas sehen? Ich kenne sie doch überhaupt nicht - oder etwa doch? fragte ich mich verwirrt. Während ich noch grübelte, wandte sie sich auch schon wieder ab, ging ein paar Schritte weiter, um dann, wie ihre beiden Vorgängerinnen, vor dem Fliederbusch stehen zu bleiben. Auch sie schlängelte sich zwischen dem umstehenden Gestrüpp hindurch und griff nach den - nun leider nur noch spärlich vorhandenen - Blütenzweigen. Was hatte sie vor? Würde auch sie sich von der betörenden Farbe der Blüten verleiten lassen und sich an dem wehrlosen Opfer vergehen? Ich spürte mein Herz vor Erregung schlagen. Vorsichtig fasste ihre Hand nach einem Zweig. Behutsam bog sie ihn zu sich herab, führte ihn an die Nase und atmete den Frühlingsduft in sich hinein. Dann ließ sie ihn in seine ursprüngliche Position zurück gleiten, holte einen weiteren zu sich heran und sog auch dessen Geruch in sich ein. Ebenso verfuhr sie mit einem dritten. Schließlich trat sie wieder zurück auf den Weg und setzte lächelnd ihren Weg fort.

Erleichtert atmete ich auf, nahm wieder an meinem Schreibtisch Platz und blieb mehrere Minuten lang gedankenversunken sitzen. Seltsam, ging es mir durch den Kopf, wie oft wohl übersehen wir solch kleine Alltagstragödien einfach, selbst wenn sie sich direkt vor unseren Augen abspielen? Steckt eventuell ein verborgener Gedanke, ein Plan oder gar ein Sinn dahinter? Oder geht es vielleicht einfach nur darum, Erkenntnisse zu gewinnen, mögen diese auch noch so trivial sein? Aber wiegen diese Erkenntnisse das Geschehene wiederum auf?

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich an jenem Tag einfach so am Fenster sitzen geblieben und seltsamen Gedanken nachgehangen bin. Noch am selben Abend schrieb ich das Geschehene nieder. Schrieb es auf, speicherte es ab und - vergaß es. Bis ich die Datei heute wieder entdeckt habe. Und das nur, weil ich gerade mit meinem Notebook auf dem Schoß auf einer Bank am Rhein sitze und eigentlich arbeiten sollte. Doch die Frühlingssonne scheint, der Fluss glitzert und zufällig habe ich mich in diesen alten Text geklickt, die Geschichte wieder entdeckt und mich plötzlich so lebhaft erinnert, als wäre es gestern gewesen. Ich erkenne jetzt, dass ich stellenweise etwas drastisch formuliert habe. Vielleicht war ich auch zu herzlos in meiner Beschreibung und Verurteilung der alten Frau und habe den Fliederbusch dagegen zu emotional betrachtet. Vielleicht habe ich mich auch in der vermeintlichen grauen Maus geirrt, die in Wirklichkeit womöglich eine Wildkatze war. Na, und wer weiß schon, was es mit dem Mädchen auf sich hatte. Dennoch werde ich das Drehbuch meines Erinnerungsfilms nachträglich weder ändern noch ergänzen, die Datei aber auch nicht löschen. Es soll genügen, mich künftig hin und wieder an das Geschehen zu erinnern und meine Gedanken auf der Suche nach möglichen Erkenntnissen schweifen zu lassen, mögen mir die wahren Hintergründe der Akteure auch für immer verborgen bleiben.

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© Silke

 

 

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