Buchtipps Europa

 

 

 

 

 

 

 

Katharina Hagena:

 Das Geräusch des Lichts

 

 

 

 

 

 

 

 

Da mir der Roman „Der Geschmack von Apfelkernen“ der Autorin so gut gefallen hatte, war ich nun gespannt auf diesen.

Die Handlung:

Fünf Menschen sitzen im Wartezimmer eines Nervenarztes, darunter eine Frau, die sich das Warten dadurch verkürzt,
dass sie in ihrem Kopf die Lebensgeschichten der Mitwartenden erfindet, auch ihre eigene, und diese geschickt
und fantasievoll miteinander verwebt.

Da ist zum Beispiel die Moosforscherin Daphne, die in Yellowknife in Kanada nicht nur nach Moosarten sucht,
sondern auch nach ihrer verschollenen Forschungskollegin, die auf der Suche nach winzigen Bärtierchen war;

Oder der Musiker, der für seine verstorbene Frau, die in Kanada ein vor ihm verborgenes Leben als
Klangkünstlerin geführt hatte, in Yellowknife auf das Geräusch des Nordlichts wartet;

Und im zentralen Teil des Romans der Junge, der sich zur Verarbeitung des tragischen Todes seiner Mutter und
seiner Halbschwester eine phantastische Erklärung um deren Flucht zum Planeten Tschu ausgedacht hat,
welche er zum Leidwesen seines Vaters hartnäckig verfolgt.

Dabei taucht immer wieder ein Element auf, das die eine Geschichte mit der anderen verbindet – ein kleiner
Faden, wie die winzigen Rhizome eines Mooses.
Was alle Geschichten verbindet ist Kanada, das Nordlicht, der Verlust eines oder mehrerer Menschen (stets Frauen),
Autounglücke im weitesten Sinne. Klingt vielleicht alles etwas merkwürdig. Ist es auch. Aber die Geschichten
sind wunderbar und fesselnd erzählt, so schön formuliert, mit intelligenten Wortspielereien gespickt und mit
so viel Fantasie geschrieben, dass man einfach immer weiterlesen möchte (zumindest ich).
Am besten gefällt mir die traurige und doch auch erheiternde Geschichte des Jungen und seine Theorie über die Flucht
seiner Mutter und seiner Halbschwester zum imaginären Planeten Tschu. In jedem Kanaldeckel, hinter jeder Art von
Gitter wittert er einen Weg zu dem geheimnisvollen Planeten. Die Suche nach den beiden führt ihn und seinen
Vater über Berlin und New York bis nach – Yellowknife, Kanada. Natürlich. ;-)

 

 

 
 

Katharina Hagena:

 Der Geschmack von Apfelkernen

 

 

 
 

 

Familienromane sind eigentlich weniger mein Ding – in diesem Fall aber schon, zumal es sich hier nicht um eine dicke Saga handelt,
sondern um eine „schlanke“ Erzählung! Vielleicht ist die Bezeichnung „Familienroman“ hier auch irreführend, denn vielmehr
geht es in diesem Roman auch um das Sich-Erinnern und das Vergessen - und die eine oder andere kleine Liebesgeschichte
ist auch noch dabei. Vor allem gefällt mir der ruhige Erzählstil bzw. wie es der Autorin gelingt, immer wieder schöne Vergleiche
und Formulierungen zu finden.

Zur Handlung:

Iris ist zur Beerdigung ihrer Großmutter Bertha in das norddeutsche Heimatdorf ihrer Mutter gereist.
Hier hat sie einst als Kind zahlreiche unvergessliche Sommer zusammen mit ihren Großeltern und Tanten, ihrer
Cousine Rosmarie und deren Freundin Mira verbracht. Bei der Testamentsverkündigung ist Iris überrascht,
dass die Großmutter ausgerechnet ihr, der einzigen noch lebenden Enkeltochter, das alte Haus vererbt hat.
Um in Ruhe zu überlegen, was sie mit diesem Erbe anfangen soll, nimmt sie sich ein paar Urlaubstage
mehr als geplant und zieht in das Haus, stöbert durch die altbekannten Zimmer, den verwilderten Garten,
schwimmt wie einst im Moorsee und wirft sich in die schicken Kleider ihrer Mutter und Tanten aus den
alten Kleidertruhen. Von ihren Erinnerungen getragen wird sie zur gedanklichen Zeitreisenden
zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die immer wieder auf Lücken und ihr eigenes Vergessen stößt.

Was war damals im Krieg mit Großvater Hinnerk?
Warum ist Berthas Schwester Anna an Lungenentzündung gestorben?
Welches Geheimnis hat Bertha bis zuletzt bewahrt?
Wer hat welche Apfelsorte am liebsten gegessen? Wie kam es zu Rosmaries tragischem Tod und
was ist aus Mira und ihrem jüngerem Bruder Max geworden?
Zumindest letztere Frage klärt sich schnell: Er ist Anwalt geworden und mit Berthas Erbschaftsangelegenheit
betraut. Und eigentlich ist er auch gar nicht mehr "die kleine Niete" aus Iris‘ Erinnerung …

Ich habe dieses Buch bereits mehrmals super gern gelesen – es liegt wohl wie eingangs erwähnt einfach
an der schönen Art, wie es geschrieben ist. Ich hab mich einfach wohlgefühlt in dieser Geschichte –
oder eigentlich in den vielen kleinen Geschichten dieser drei Familiengenerationen.
Und eigentlich ist es auch leicht zu lesen - aber ich muss gestehen:
Mit den Namen und Verwandtschaftsbeziehungen tat ich mich schwer, darum habe ich mir selbst einen Stammbaum aufgezeichnet,
der mir beim Lesen eine gute Hilfe war. ;-)
Ok, das Ende … vorhersehbar, aber egal. Ich les wohl sonst zu viele Bücher mit offenem oder weniger gutem Ende,
so dass ich ein Happy End gar nicht mehr gewohnt bin und auch mal schön finde. :-D


 

 

 

 

Katharina Hagena:

Vom Schlafen und Verschwinden

 

 

 

 

 

 

In einer schlaflosen Nacht in ihrer Hamburger Wohnung rollt die Schlafforscherin und Haupterzählerin Ellen
rückblickend ihre bisherige Lebensgeschichte auf. Sie erzählt von ihrer Kindheit und Jugend in einem kleinen badischen Dorf,
ihrer darauffolgenden Zeit in Irland, von ihren Lieben und ihren Verlorenen: von ihrer Mutter, die am Ende nur noch schlief;
ihrem Vater, der einen Chor gründete, um den schweren Schlaf herbeizusingen; ihrem Jugendfreund Andreas, der nicht mehr
spricht, aber mitsingt; von Lutz, der spurlos verschwand; von ihrer Tochter Orla, die Windharfen bastelt, und von ihrem
Liebhaber Benno, der im Wald ein Stück Vergangenheit sucht.

Dabei wird Ellens Erzählung immer kurz unterbrochen von kursiv gedruckten Einträgen aus dem Chortagebuch, das
von der geheimnisvollen Marthe geführt wird, von der nur einer weiß, wer sie wirklich ist.
Marthe, die durch die Rheinauen wandelt, die Graureiher beobachtet, die gleichfalls sucht.
Im Verlauf der Erzählung wird alles allmählich klar und mit dem Ende kommt heraus, welche Tragödie sich tatsächlich abgespielt hat.

Eine virtuos geschriebene, intensive Geschichte - poetisch, märchenhaft, geheimnisvoll und spannend mit überraschendem Ende.

 

 

 

 

Marie Hermanson:

 Muschelstrand

 

 

 

 

 

 

 

Diesen 2002 auf Deutsch erschienenen Roman der schwedischen Autorin Marie Hermanson habe ich schon lange
bei mir im Bücherregal stehen und sogar bereits ein paarmal gelesen – aber das war schon lange her und was ich vor
allem noch in Erinnerung hatte war, dass mir dieser Roman auch nach mehrmaligem Lesen sehr gefallen hatte.
Also habe ich dieses Buch nochmals zur Hand genommen und ich kann nur sagen:
Die Geschichte hat mich erneut in ihren Bann gezogen und ich habe das Buch innerhalb von zwei gemütlichen Abenden
erneut mit viel Freude gelesen und kann es wärmstens empfehlen!

Die Geschichte spielt an der Schärenküste Südschwedens in der Gegend um Tångevik. Als Ulrika nach langer Zeit
wieder an jenen Muschelstrand zurückkehrt, an dem sie einst mit ihrer Sommerfreundin Anne-Marie und deren Bruder Jens
unvergessliche Sommertage verbracht hat, werden Erinnerungen an ihre Jugendjahre wach:
Wie sehr sie Anne-Marie damals bewunderte, wie gern sie Teil der vermeintlichen Bilderbuchfamilie der Gattmanns
sein wollte, und was in jenem verhängnisvollen Sommer geschah, als Maja, die kleine indische Adoptivtochter der Gattmanns,
plötzlich verschwand und auf einmal alles anders wurde …

Durchbrochen wird Ulrikas Ich-Erzählung immer wieder von der Geschichte einer anderen Frau aus derselben Gegend,
Kristina. Genauer gesagt: der Roman beginnt sogar mit Kristina und ich muss sagen: Schon als ich dieses erste,
lediglich anderthalbseitige Kapitel las, war ich sofort von Marie Hermansons Schreibstil gepackt:
Einfach ein wunderschöner Sprachstil, eine gelungene Wortwahl, behutsam und federleicht geschrieben – wunderbar!

Jedenfalls – Kristina ist von klein an anders, wendet sich im Lauf ihres Heranwachsens mehr und mehr von anderen Menschen ab,
trägt zeitweise gar eine Tiermaske, um nicht angesprochen zu werden, und führt letztendlich als junge Frau das Leben
einer Eremitin in einer einfachen Hütte am Meer. Auch Kristina verschwindet damals im selben Jahr wie Maja.
Mit einem Unterschied: Maja taucht sechs Wochen nach ihrem rätselhaften Verschwinden urplötzlich und gänzlich unversehrt
an einer unzugänglichen Stelle in den Felsen an besagtem Muschelstrand wieder auf.
Doch da auch Maja anders ist als andere Kinder und sich nicht mitteilt, bleibt ihr Verschwinden ein Rätsel -
bis sich die Handlungsstränge nach und nach miteinander verknüpfen …

Ein erzählerisch und sprachlich sehr gelungener Roman über Freundschaft, Trauer, Sehnsucht und Einsamkeit,
mit tiefgründigen Charakteren und sehr schönen Naturbeschreibungen.

 



 
 

Werner Köhler:

 Cookys

 

 

 

Die rückblickend erzählte Geschichte des Ich-Erzählers Gerd Krüger alias Cooky beschreibt anschaulich und stimmungsvoll
dessen Entwicklung vom naiven Jungen vom Land über den unsicheren Jugendlichen bis hin zum jungen, erfolgreichen
Leiter des Spitzenrestaurants „Cooky's". Dabei zieht sich die Leidenschaft für das Kochen wie ein roter Faden
durch sein Leben. Während er sein Kochtalent in jungen Jahren zunächst vor allem als Mittel einsetzt, um Frauen
für sich zu gewinnen (um dadurch seine Unsicherheit im Ungang mit ihnen zu kaschieren), verhilft ihm dieses
später zu seinem beruflichen Erfolg.

Die hauptsächlich in Aachen spielende Erzählung beginnt vor dem Hintergrund, dass das Restaurant inzwischen zwar
ordentlich boomt, es in Cookys privatem Bereich, sprich: in Bezug auf Frauen, zu seinem Leidwesen jedoch seit
geraumer Zeit eher mau aussieht - ein Manko, dass er durch die nahezu ausschließliche Konzentration auf
seine Arbeit auszugleichen versucht. Jäh aus seinem Trott heraus gerissen wird er durch ein denkbar
trauriges Ereignis: Den plötzlichen Tod eines guten Freundes. Im Lauf der darauf folgenden Rückblenden in die
70er- und 80er-Jahre erfährt der Leser anhand Cookys persönlicher Erinnerungen nicht nur von dessen
Entwicklung hin zu dem Menschen, der er jetzt ist, sondern auch mehr über die Person des
Verstorbenen und den Hintergründen, die zu dessen Tod führten, sowie über die damaligen Schulfreunde,
die durch das Restaurant noch bis in die Gegenwart miteinander verbunden sind
Dazwischen wird stets viel und lecker gekocht, so dass man beim Lesen geradezu Appetit auf Cookys Gerichte bekommt.

Ein sehr schönes, stellenweise auch trauriges Buch über das Jungsein, die Liebe, Freundschaft und Zusammenhalt.

 

 

 

 

 

 

    Volker Kutscher:
Die Gereon-Rath-Krimireihe

 

 

 

 

 

Erst durch die TV-Serie „Babylon Berlin“, die ich sehr verspätet für mich entdeckt habe,
bin ich auf die zugrundeliegende Krimi-Buchreihe von Volker Kutscher gestoßen. Tja, und was dann passierte, hatte ich noch nie:
In Windeseile habe ich mich durch die acht (!) Bände gelesen (und inzwischen auch den neuen 9. Band),
konnte kaum aufhören, da der Spannungsbogen zwischen den Kapiteln
nie abreisst und sich die komplexen Handlungsstränge immer wieder in überraschende Richtungen entwickeln.

Da ich die 3 Serien-Staffeln ja bereits kannte, überraschte mich der erste Band "Der nasse Fisch" vor allem dahingehend, dass er in vielem
sehr anders ist als die TV-Serie, die mit Zustimmung des Autors viel freie Hand in der filmischen Umsetzung hatte und
diese auch genutzt hat (und dies hervorragend - aber das ist ein anderes Thema).

Also, ich kann es vorweg sagen: Wer die TV-Serie kennt, muss nicht befürchten, die Bücher erzählten 1:1 dieselbe Geschichte.
Mitnichten. So gibt es auch einige Charaktere nur im Film, manche nur im Buch, manche sind im Roman lediglich Randfiguren oder heißen anders etc.

Ich möchte hier keine Inhaltsangabe aller Bände liefern - das führte zu weit und das kann man auch anderswo nachlesen.
Darum hier jetzt einfach etwas von mir zum Einstieg in die Buchreihe:

Die Bücher spielen in den Jahren ab 1929 in der Weimarer Republik und setzen sich jährlich fort – und ja, wir wissen heute,
wohin die politische Entwicklung führte, die Protagonisten jedoch nicht. Sie leben in ihrer Gegenwart, können lediglich mutmaßen,
glauben, hoffen (so wie wir heute auch …).


Band 1: Der nasse Fisch

Die Hauptfigur, Kriminalkommissar Gereon Rath, wurde infolge eines tödlich verlaufenen Polizeieinsatzes mit Hilfe des Einflusses
seines Vaters von Köln nach Berlin versetzt. Dort ist er zwar zunächst lediglich der „Sitte“ unterstellt, möchte aber um jeden Preis wieder
für die Mordkommission arbeiten. So ermittelt er neben seiner normalen Arbeit dann erstmal heimlich „nebenbei“, also ohne dienstliche Befugnis,
auf eigene Faust im Fall eines Leichenfunds im Landwehrkanal, der sich zu einem äußerst komplexen Kriminalfall entwickelt, stößt Rath
im Verlauf seiner Ermittlungen doch auf Verbindungen zu umstürzlerischen Exilrussen, Waffenschmuggel entgegen der Versailler Verträge, zum
organisiertem Verbrechen und einem mysteriösen Goldschmuggel. Dabei verliebt er sich in die Stenotypistin Charly aus der Mordkommission
und nutzt deren Insiderwissen für seine geheimen Ermittlungen, bei denen er sich in die kriminellen Machenschaften der Berliner
Unterwelt verstricken lässt. Schließlich muss er sich fragen, was ihm wichtiger ist: Seine berufliche Karriere, die Wahrheit oder seine Liebe zu Charly …

Was Band 1 der Krimi-Reihe ausmacht, gilt ebenso, wenn nicht noch mehr, für die folgenden Bände:
Die Story ist sehr gut und spannend erzählt, intelligent, komplex und gekonnt eingebettet in den geschichtlichen Kontext. Einige Personen wie z.B.
den Leiter der Berliner Mordinspektion, Ernst Gennat („Der Buddha“) oder den Kellner Bayume Mohamed Husen (im 4. Fall) gab es tatsächlich.

Die Hauptfigur Gereon Rath ist weder im Polizeialltag noch privat ein perfekter Held, sondern hat auch Schwächen und Macken, die ihn als
Charakter aber sympathisch machen. So verstößt er zum Beispiel oft und gerne gegen Regeln, nimmt es mit der Wahrheit nicht immer so genau,
ist oftmals unbeherrscht, vertuscht eine eigene Straftat, bringt aus eigenem Rechtsempfinden einen Mord auch mal nicht zur Anklage und in
seiner Beziehung zu Charly handelt er auch oft unglücklich. Aber natürlich hat er auch gute Eigenschaften, u.a. seinen Humor und seinen Sinn
für Gerechtigkeit. Man fragt sich manchmal beim Lesen, ob man jetzt dringender wissen will, wie es mit dem Kriminalfall weitergeht
oder wie mit der Beziehung zu Charly.

Transatlantik - Band 9

Mit Spannung hatte ich nach "Olympia" auf die Fortsetzung gewartet und diese dann in kürzester Zeit gelesen
Zunächst fand ich den Anfang dieses Bandes etwas zäh, denn was in „Olympia“ am Ende im Kurzverfahren bereits erzählt wurde,
gibt es nun erstmal in der Langversion. Aber ich wollte doch vor allem wissen, wie es mit Gereon Rath weiter geht …
Ok, das dauert dann noch etliche Seiten, die aber jetzt auch nicht unspannend sind, auch wenn es zunächst in Berlin und vor
allem mit Charly, aber auch mit Fritze weitergeht.

Insgesamt hat mir dieser Band auch wieder super gut gefallen, wenn er auch anders ist als seine Vorgänger – aber das ist
auch gut so, denn es geht mittlerweile mehr um das, was den Protagonisten widerfährt im Zuge der immer schlimmer werdenden
politischen Verhältnisse in Deutschland vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs, und das allein ist ja schon super spannend.
Der Kriminalfall, den Charly mit Hilfe von Gereons Nachfolger, Kriminalkommissar Andreas Langer, nun aufklären möchte,
da ihre Freundin Greta darin verwickelt ist, erreicht nicht ganz die Spannung und Komplexität der Fälle von Gereon Rath,
ist aber dennoch gut aufgezogen mit Bezug auf einen zurückliegenden Mord an einem zu Unrecht Gefangenen im
Konzentrationslager Sachsenhausen aus dem vorigen Band „Olympia“.
Und dann geht es endlich auch weiter mit Gereons Geschichte in den USA …



Die Bände im Einzelnen:

Der nasse Fisch - Band 1
Der stumme Tod - Band 2
Goldstein - Band 3
Die Akte Vaterland - Band 4
Märzgefallene - Band 5
Lunapark - Band 6
Marlow - Band 7
Olympia. - Band 8
Transatlantik - Band 9
Rath - Band 10

 

 

 

 

    Ann-Helén Laestadius:
Das Leuchten der Rentiere / Stolen

 

 

 

Durch Zufall stieß ich auf der Suche nach gutem, neuen Lesestoff auf diesen Roman
und da ich vor kurzem erst selbst im hohen Norden war, hätten Buchtitel und Cover nicht besser passen können.
Und ich kann schon verraten: Ich wurde nicht enttäuscht. – Und nein: Man muss nicht im hohen Norden gewesen sein,
um dieses Buch zu mögen! Man sollte lediglich etwas Interesse an einem indigenen Volk haben,
von dem man hier sonst wenig mitbekommt.

Der in drei Teile gegliederte Roman „Das Leuchten der Rentiere“ (im schwedischen Original: stölt = Diebstahl)
spielt im hohen Norden Schwedens beim rentierzüchtenden Volk der Samen. Die Protagonistin Elsa ist im
ersten Teil erst neun Jahre alt und wird zufällig Zeugin, wie ein Nicht-Same ihr Rentierkalb tötet.
Der auf frischer Tat ertappte Wilderer zwingt sie zum Schweigen und verhindert damit, dass die im Verlauf der
Geschichte ohnehin desinteressiert und untätig wirkende Polizei diesen Tötungsdelikt an einem Rentier
der Samen weiterverfolgt. Stattdessen wird der Fall als „Diebstahl“ zu den Akten gelegt.

Trotz dieser Ausgangssituation, immerhin einer Straftat, entwickelt sich die Geschichte zunächst sehr langsam
und ruhig. Man lernt erstmal vor allem Elsa und die anderen Charaktere aus ihrem verwandtschaftlichen Umfeld kennen,
Sitten, Gebräuche und Sprache der Samen sowie die Schwierigkeiten des Volkes mit der nicht-samischen Landbevölkerung.
Letztere beginnen bereits im Kindesalter mit Ausgrenzung und Mobbing in der Schule. Und einige verspüren
auch schmerzlich die Einsamkeit im hohen Norden.

Hierfür muss man schon etwas Geduld aufbringen (bis zum Ende des ersten Teils, im Hardcover auf Seite 146) und sich
an die fremden Begriffe gewöhnen (die hinten im Buch erläutert werden) – doch es lohnt sich!

Der zweite Teil beginnt mit einem Zeitsprung von 10 Jahren, d.h. Elsa ist mittlerweile neunzehn, und es geschieht
direkt etwas Grausiges, das der Geschichte an Fahrt verleiht und den Leser mitnimmt.
Im weiteren spannenden Verlauf sieht sich Elsas Sippenverband durch die Wilderei zunehmend mit Straftaten konfrontiert,
die weder polizeilich verfolgt noch geahndet werden, sondern als "Diebstahl" zu den Akten gelegt werden.
Ohnmacht und unterdrückte Wut wachsen. Elsa will dies jedoch nicht schweigend hinnehmen und prangert mutig die
Straftaten gegen ihr Volk und die Untätigkeit der Polizei öffentlich mittels Fotos auf Social Media sowie in einem
Interview mit einer Journalistin an - was nicht bei allen gut ankommt.
Es folgen Hate-Postings und Situationen, die für Elsa zunehmend bedrohlicher werden …

Ein tolles Buch, das zwar erst langsam in Schwung kommt, nachher dann aber doch spannend wird,
dabei regelrecht unter die Haut geht und zugleich auch nachdenklich stimmt.
Dazu vermittelt Ann-Helén Laestadius einen interessanten Einblick in das traditionelle Leben der Samen
(wobei ich insbesondere die Beschreibung des „Joikens“, einem speziellen Gesangsstil, interessant fand, hier eine Hörprobe)
mit all ihren Schwierigkeiten in der modernen Welt, z.B. der Rolle der Frau (der traditionell keine
leitende Stellung in der Rentierhaltung erlaubt ist), der Naivität der Touristen (die vor allem gerne Instagram-Fotos
machen wollen), dem Klimawandel (der Rentiere sterben lässt), der Diskriminierung der Samen und der
hohen Suizidrate unter ihnen. Aber es wird auch ein universelles Problem angesprochen:
Dass heutzutage zwar sehr viel gechattet und gepostet wird, leider aber zu wenig wirklich miteinander über
konkrete Probleme und Gefühle des Einzelnen gesprochen wird.

Ich hatte mich zugegebenermaßen vorher noch nicht näher mit dem Volk der Samen beschäftigt und wenn es um den
Themenkomplex „Ureinwohner – Diskriminierung, Rassismus, Entrechtung“ ging, dachte ich mehr an fernere Gefilde wie
Australien, Süd- oder Nordamerika als an das quasi benachbarte Schweden. Ich muss sagen: Ich bin sehr erstaunt von Schweden.
Im negativen Sinn. Das hätte ich nicht gedacht. In ihrem Schlusswort erwähnt die Autorin, die selbst dem Volk
der Samen angehört, dass sich die Erzählung an wahre Gegebenheiten anlehnt und sie bei ihrer Recherche für den Roman
einhundert Strafanzeigen von Samen durchgegangen ist. Man fragt sich wirklich, woher dieser Hass kommt und warum
einige diesen nicht nur an den Menschen, sondern auch an den Tieren auslassen müssen.

In einem sehr informativen Interview mit Ann-Helén Laestadius (auf Englisch) erfährt man noch mehr zu den
Hintergründen zu diesem Roman (insgesamt ca. 57 min).

Die Samen sind übrigens als Urvolk anerkannt - aber einzig Norwegen stellt sie unter den Schutz der internationalen
ILO-Konvention 169 (Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern, das
rechtsverbindlichen Schutz und Anspruch auf eine Vielzahl von Grundrechten garantiert).
Der Klimawandel bedroht ihre Lebensweise in besonderem Maße, da zunehmend Rentiere durch Hitzestress, Verbuschung,
Parasiten und Nahrungsmangel im Winter (Regen anstelle von Schnee lässt den Boden vereisen
und die Tiere gelangen nicht mehr an Nahrung) verenden.

Seit 2024 gibt es auch die gleichnamige Verfilmung des Romans auf Netflix zu sehen.
Der Film besticht vor allem durch die schönen Aufnahmen der winterlichen Natur, der Rentiere und
den Samen in ihren farbenfrohen Trachten. Ansonsten wird auch hier langsam, aber nicht
langweilig erzählt, die Grausamkeiten aus dem Roman werden nicht dargestellt.
Gegen Ende wurde die Handlung dann an einigen Stellen inhaltlich abgeändert, aber egal:
Ein sehr schöner, ruhiger Film - Aber dennoch: Vor allem lesen, Filmgucken dann als Zugabe.
Auf jeden Fall ist es ein wichtiger Film für das Volk der Samen, durch den ihr Schicksal eine
nochmal höhere imtermationale Aufmerksamkeit erreicht als allein durch den Roman. Man kann nur hoffen,
dass sich dadurch etwas in den Köpfen jener Menschen im hohen Norden Schwedens ändert, die sie
loshaben wollen, schikanieren und feige ihre Tiere quälen.

 

 

 

    Ann-Helén Laestadius:
Die Zeit im Sommerlicht / Punished

 

 

 

Nachdem mir der Roman „Das Leuchten der Rentiere“ (und ebenso seine Verfilmung auf Netflix) so gefallen hatte,
war ich sehr gespannt auf das neue Buch der Autorin, in dem es wieder um das Volk der Samen in Schwedens hohem Norden geht.

Am Beispiel des Schicksals von fünf Kindern wird die in den 1950er Jahren vom schwedischen Staat praktizierte
Zwangsentsendung samischer Kinder in spezielle Internate, so genannte Nomadenschulen, beschrieben.
In Wirklichkeit waren diese Internate Umerziehungsheime, in denen die Kinder ihre eigene Sprache nicht mehr sprechen,
ihre Kultur nicht mehr leben und selbst ihre samischen Namen nicht mehr tragen durften (vgl. ähnliche Praktiken
damals z.B. in Australien mit den Aborigines).

Die Geschichte der fünf Protagonisten wird in zwei miteinander verwobenen Zeitsträngen erzählt, die jeweils in den
1950er sowie in den 1980er Jahren spielen. Diese Zeitsprünge machen einerseits hautnah deutlich, wie sehr die Nomadenschule
für die Kinder die Hölle auf Erden war, und zeigen andererseits, wie die dortigen traumatischen Erlebnisse
ihr späteres Leben und Erwachsensein beeinflussen.
Keiner der späteren Erwachsenen hat die Kindheitserlebnisse in der Nomadenschule verarbeitet.
Keiner hat jemals darüber mit anderen gesprochen. Stattdessen versuchen alle, die dunklen Erinnerungen an Angst, Heimweh,
Misshandlung, Schmerz und Ungerechtigkeit zu verdrängen und so ihre geschundene Seele zu heilen.
Dabei schlägt jeder einen anderen Weg ein: z.B. durch Rückbesinnung auf die samische Kultur – oder durch das genaue
Gegenteil, deren Verleugnung, aber auch durch Alkohol- oder Medikamentensucht, Hypochondrie oder Bindungsangst.

Als nach 30 Jahren die einstige sadistische Hausmutter plötzlich wieder im Leben ihrer ehemaligen Schüler auftaucht,
keimt die Hoffnung auf eine mögliche Rache, zumindest aber auf Genugtuung und vielleicht auf Heilung auf.

Wie schon „Das Leuchten der Rentiere“ zeigt auch dieser berührende Roman, wie die Sami schon seit vielen Jahren
diskriminiert und ihrer Kultur beraubt wurden. Die eindrücklichen Beschreibungen von Erlebnissen, Stimmungen
und Gefühlen der Protagonisten machen deutlich, wie sehr dieses Thema der Autorin am Herzen liegt.
Sie selbst ist gebürtige Sami und auch ihre Mutter musste einst ein solches Zwangsinternat besuchen.
Ein mal wieder sehr lesenswertes, nachdenklich stimmendes Buch.

 

 

 

    Charlotte McConaghy:
Wo die Wölfe sind / Once there were Wolves

 

 

 

Da mir von dieser Autorin bereits ihr erster Roman „Zugvögel“ so sehr gefallen hat,
habe ich direkt im Anschluss auch ihr zweites Buch gelesen – besser gesagt: verschlungen,
denn diese Geschichte ist sogar noch packender, sofern das überhaupt noch möglich ist.

Thematischer Hintergrund sind auch hier wieder Natur und Klimawandel, konkret geht es um Wölfe,
Wälder und den Versuch, durch Renaturierung den Klimawandel einzubremsen.
Erzählt wird von der Biologin Inti Flynn, die mit ihrer Schwester Aggie in die schottischen Highlands
gezogen ist, um dort ein Projekt zur Wiederansiedlung von Wölfen umzusetzen. Ziel ist die Wiederherstellung des
natürlichen Gleichgewichts des Hochlandes: Die Anwesenheit der Wölfe soll dafür sorgen, dass das Rotwild wieder wandert,
anstatt in einem Areal sesshaft zu leben und dort durch den Fraß junger Triebe das Nachwachsen der einstigen Wälder zu verhindern.
Dieser Plan stößt jedoch vor allem bei den lokalen Bauern nicht gerade auf Begeisterung, da diese um ihre Nutztiere
und letztendlich auch um ihre eigene Sicherheit fürchten.

Neben dieser Rahmenhandlung geht es aber noch um vieles mehr – kurz gesagt um Liebe, um Gewalt und um Empathie.
Insbesondere an letzterer hat Inti mehr als genug in sich: Sie leidet an einer seltenen Krankheit, der
Spiegelberührungssynästhesie. Diese bewirkt, dass Inti die sinnlichen Empfindungen anderer Lebewesen, sei es Genuss oder Schmerz,
genauso fühlt, als wären es ihre eigenen. Dies macht sie Menschen und Tieren gegenüber sehr mitfühlend, jedoch auch sehr verletzlich.
So hat der psychisch schlechte Zustand ihrer nicht mehr sprechenden Schwester Aggie auch Auswirkungen auf Inti und erst
nach und nach kommt heraus, wie es dazu kam.

Derweil passiert, was passieren musste: Erst gibt es einen erschossenen Wolf, dann einen getöteten Menschen.
Die Stimmung gegen die Wölfe und gegen Inti wird zunehmend aggressiver, zugleich nimmt eine Liebesgeschichte ihren Lauf, die Ereignisse
entwickeln sich zunehmend dramatisch und die Erzählung wird schließlich zum packenden Krimidrama, in dem man sich manchmal fragt:
Wer ist eigentlich gefährlicher - Mensch oder Wolf?
Gegen Schluss war es für mich nur noch ein Page-Turner – so einnehmend und spannend geschrieben!

Fazit:
Wieder ist es der australischen Autorin hervorragend gelungen, eine tolle, fesselnde Erzählung mit interessanten Charakteren,
Bezug zur Natur und thematischer Aktualität zu schreiben. Wie bereits „Zugvögel“ ist auch dieser Roman wie geschaffen
für eine Verfilmung – Kein Wunder, denn Charlotte McConaghy hat einen Abschluss als Drehbuchautorin.

Ausblick:
Laut ihrer Instagram-Seite war die Autorin im Frühjahr 2023 mit ihrem Lebensgefährten und Kleinkind
in der Subantarktis (u.a. Mcquarie Island) unterwegs und hat das Manuskript für ein weiteres Buch
zu Ende geschrieben, das aber erst Anfang 2025 erscheinen soll.
Ich bin sehr gespannt!

P.S.: Wie auch schon in "Zugvögel" konnte ich auch in diesem Roman wieder etwas interessantes neues lernen:
Schon mal vom "Trembling Giant" gehört? (im Buch auf S. 125)
Oder von "Pando"?
Es ist ein "Wald" in Utah, aber eigentlich handelt es sich dabei nicht um einen wirklichen Wald,
bestehend aus unterschiedlichen Bäumen, sondern lediglich um einen einzigen Organismus:
Eine Zitterpappel, die über Rhizome immer weiter gewachsen ist und eine Klonkolonie aus ca. 47.000 (!) Stämmen
entstehen ließ und somit wie ein Wald wirkt. Ihr Alter wird auf ca. 14.000 Jahre geschätzt, je nach Quelle
sogar noch älter (die Autorin hat die Theorie mit 1 Mio Jahre gewählt, die aber wohl eher nicht zutrifft).
Welche Zahl auch immer stimmen mag - sehr beeindruckend.

 

 

 

    Charlotte McConaghy:
Zugvögel / Migrations

 

 

 

 

Der Roman spielt in einer womöglich nicht allzu fernen Zukunft, in der die Folgen des Klimawandels und der Ausbeutung
natürlicher Ressourcen zu einem weltweiten Artensterben längst befürchteten Ausmaßes geführt haben, so dass es
mittlerweile auf der ganzen Erde keine freilebenden Säugetiere mehr gibt. Auch Fische und Vögel gibt es nur noch
vergleichsweise wenige und die Küstenseeschwalbe scheint der einzig noch verbliebene Zugvogel zu sein.

Vor diesem Hintergrund plant die Protagonistin Franny, deren Leben ähnlich rastlos wie das eines Zugvogels erscheint,
die womöglich letzte Migration der Küstenseeschwalben von ihren arktischen Brutplätzen in ihre antarktischen
Überwinterungsgebiete zu verfolgen. Um dies zu realisieren, bleibt ihr keine andere Wahl, als ausgerechnet
auf einem der wenigen verbliebenen Fischerboote mitzureisen, also genau mit denjenigen den Vögeln hinterherzufahren,
die aus ihrer Sicht für die Ausrottung von Tierarten direkt mitverantwortlich sind.
Die Crew ihrerseits und insbesondere Kapitän Ennis sind ebenfalls nicht begeistert von der Anwesenheit einer
unerfahrenen Landratte an Bord, doch der Hoffnungsschimmer, durch die Verfolgung der Zugvögel doch noch den
„goldenen Fang“ im nahezu leergefischten Meer zu machen, besiegelt den Deal.

Abgesehen von ihrer gegenwärtigen Mission ist Franny zugleich in Geschehnissen aus ihrer geheimnisvollen
Vergangenheit gefangen – dem frühen Verschwinden ihrer Mutter, einer Tat ihres Vaters, einem Gefängnisaufenthalt,
ihrer eigenen Suche nach der Wahrheit und der außergewöhnlichen Liebe zu ihrem Ehemann Niall, einem angesehenen
Professor für Ornithologie, dem sie von unterwegs Briefe schreibt, die jedoch nie versendet werden (können).
In Rückblenden erfährt man nach und nach, was sich zugetragen und welche Bedeutung ihr Projekt tatsächlich hat.
Derweil gestaltet sich die Seereise in die Antarktis durch die stürmische, eisig kalte See alles andere als ungefährlich …

Mir hat diese Geschichte sehr gut gefallen, sowohl sprachlich als auch in ihrer Vielseitigkeit.
So ist z.B. das scheinbar konträre Verhältnis zwischen der Protagonistin und der Fischer-Crew sehr gut dargestellt:
Einerseits der Gegensatz zwischen Franny, die für den Artenschutz einsteht, und den Fischern, die immer so weiter machen
wollen wie bisher - andererseits aber auch das Verbindende, das sie wiederum eint: Die Sehnsucht nach dem Meer und nach Freiheit.
Die Reise von Grönland in die Antarktis ist dann packend erzählt wie ein Schiffs-Abenteuerroman, es ist viel die Rede
von Kälte, die immer wieder als zentrales Element in der Geschichte auftaucht und beim Lesen regelrecht spürbar wird.

Ein durchweg sehr schön und fesselnd erzählter Roman, der von seinem Hintergrund rund um Umweltzerstörung und
Artensterben genau in unsere Zeit passt. Dazu gibt es gegen Ende in einer der zeitlichen Rückblenden noch eine
überraschende Aufklärung einer noch offenen Frage bezüglich Frannys Vergangenheit.
Ein Roman, der geradezu schreit nach einer Verfilmung. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, gibt es auch seit einiger Zeit ein
konkretes Filmprojekt – nur passiert ist bis dato (2023) leider noch nichts.
Also erstmal bzw. sowieso: Unbedingt lesen!

P.S.:Neben der packenden Story erfährt man auch noch so einiges Interessantes:
So wusste ich z.B. nicht, dass die Küstenseeschwalbe der Zugvogel mit dem längsten Zugweg ist, dass überhaupt ein Vogel
so eine weite Strecke zurücklegt von der Arktis bis in die Antarktis und wieder zurück, laut Wikipedia hin und
zurück bis zu 30.000 km jährlich (!), einige sogar noch mehr!
Das ist wirklich krass - wahre Vielflieger sozusagen, das aber rein ökologisch. ;-)

 

 

 

 

 

 

  Joachim Meyerhoff:
Alle Toten fliegen hoch

 

 

 

 

Unterhaltsam, lustig, leicht zu lesen - dabei aber dennoch sehr gut geschrieben!
Und das Beste: Es ist nicht nur 1 Buch, sondern eine kleine, vierbändige Erzählreihe namens

"Alle Toten fliegen hoch" von Joachim Meyerhoff
Sparte: Coming-of-Age / Entwicklungsroman

Die Bücher im Einzelnen:

1. Alle Toten fliegen hoch - Amerika
2. Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war
3. Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
4. Die Zweisamkeit der Einzelgänger
(P.S.: Es gibt noch einen 5. + 6. Band - diese ignoriere ich lieber)

In dieser Romanreihe erzählt der Autor von seiner Kindheit und Jugend im ländlichenSchleswig Holstein
als jüngster von drei Söhnen des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie (Band 1, vor allem
aber Band 2), seinem Schüler-Austausch in die USA (Band 1), seinem Schauspielstudium in München (Band 3)
und seiner Zeit als junger, mäßig erfolgreicher Theaterschauspieler.

Wie der Titel bereits verrät, geht es im ersten Band vor allem um sein Schüleraustauschjahr in den
USA und um seinen Traum, fern von Brüdern und Eltern allein die große, weite Welt zu entdecken.
Die Realität beschert ihm dann jedoch eine christliche Gastfamilie in einem Kaff in Wyoming...
Doch er nimmt die Herausforderung an und durchlebt jede Menge lustige und skurrile Begebenheiten und
natürlich auch erste Liebschaften. Der Schicksalsschlag ereilt ihn dann aus heiterem Himmel …

Der zweite Band führt zeitlich einen Schritt zurück in die Kindheit des Erzählers und das Aufwachsen
in einer Familie, die auf dem Gelände einer Psychiatrie-Anstalt in Schleswig lebt, da der Vater
dort der Psychiatriedirektor ist. Einerseits wimmelt es geradezu von skurrilen Begegnungen und
lustigen Anekdoten, andererseits geht es in diesem Band aber insbesondere auch um seinen Vater,
ein Geheimnis und einen weiteren Schicksalsschlag.

Im dritten Band scheint der bislang perspektiv- und motivationslos vor sich hindümpelnde Protagonist
allmählich seinen Weg zu finden und beginnt eine Schauspielausbildung in München.
Es folgt jedoch nicht etwa eine wilde Studentenzeit in der Großstadt, sondern vielmehr eine
Gratwanderung zwischen der Welt seiner Großeltern, bei denen er während seiner Ausbildung wohnt, und
der für ihn in vielerlei Hinsicht befremdlichen Welt des Theaters. Zunehmend kämpft er dabei gegen
Selbstzweifel und eine innere Leere, die auch seine Großeltern bereits ergriffen hat.

Der abschließende vierte Band beschreibt die Zeit seiner ersten Bühnenengagements in der Theater-Provinz
und endlich auch der ersten großen Liebe – oder sind es etwa schon bald zwei? Oder gar drei?
„Egal“, würde Nr. 2 drauf antworten … Und ganz am Schluss löst sich dann auch der
Titel dieser empfehlenswerten Buchreihe auf.

Fazit:
Alle vier Bände sind überwiegend geprägt von lustig erzählten, komischen und skurrilen Erlebnissen,
die der Autor mit einer guten Prise Selbstironie und viel Wortwitz unterhaltsam rüberbringt, die aber auch
immer wieder von tragischen Ereignissen durchbrochen werden.
Ja, er erzählt gern (über sich) - aber abgesehen von ein paar kleineren, gefühlten Längen in Band 3 und 4
habe ich die Bände in rascher Folge aufeinander gelesen und habe es sehr genossen!
Band 5 habe ich gelesen - aber es wurde mir dann doch u.a. auch zu selbstverliebt ("alter, weißer Mann"),
weswegen ich auch den 6. Band nicht lesen werde.

 

 

 

 

Jo Nesbo: Die Harry-Hole-Krimireihe

 

 

 

Meine letzte Bücher-Entdeckung ist eine Mischung aus Wieder- und Neuentdeckung:
Die Harry Hole – Krimireihe von Jo Nesbø kemme ich schon seit langem, zumal die ersten beiden Bände in Sydney bzw. in Bangkok spielen -
was auch der Grund ist, weshalb ich damals überhaupt auf diese Bücher aufmerksam geworden bin, sind beide Orte bzw. Länder doch auch
nach wie vor für mich persönlich sehr beliebte Reiseziele.
Wie es so geht hatte ich die Fortsetzungen dann irgendwann aus den Augen verloren – und bin nun umso froher, diese Lücke nun
geschlossen zu haben bis zum aktuellen Band 12. Natürlich hab ich nach all den Jahren aber zunächst wieder mit Band 1 zu lesen begonnen –
und war dann in einem regelrechten Lesefieber gefangen, so dass die mir fehlenden Bände schnell nachgekauft und geradezu verschlungen wurden.

Fazit:
Eine wirklich sehr gute, spannend erzählte Krimireihe mit vielen überraschenden Wendungen und einem Protagonisten, mit dem man
richtig gut mitfiebern, zuweilen auch mitleiden kann, denn Harry ist trotz seiner Ermittlungserfolge kein blütenreiner Superheld:
Unter Kollegen gilt er als eigensinnig, besessen, arrogant, reizbar und instabil. Vor allem aber ist er eines: Ein Alkoholiker, der immer wieder in
seine Sucht verfällt und dadurch nicht nur sich und sein persönliches Glück, sondern auch das anderer zerstört. Um seine Fälle zu lösen,
schreckt er vor fast nichts zurück und gefährdet dadurch auch schon mal das Leben Unschuldiger – eine der Facetten seines Charakters,
der im Grunde nur das Gute will: Mordfälle lösen und Mörder unschädlich machen– neben dem Alkohol seine zweite Sucht oder
seine „zweite Geliebte“.

Während seine beiden ersten Fälle noch in Sydney bzw. Bangkok spielen, ist in den folgenden Bänden Oslo Schauplatz der Geschichte,
die Stadt, in der Harry lebt und als Ermittler arbeitet. Zwar stehen die verwickelten, oft blutrünstigen Mordfälle stets im Vordergrund,
doch gewinnt man von Buch zu Buch auch zusehends mehr Einblicke in Harrys Persönlichkeit, seine Lebensumstände und seine
(dritte) große Liebe Rakel, ohne dass dieses Element überhandnimmt.

Mich haben die Fälle jedenfalls ziemlich gefesselt und es fiel mir stets schwer, ein einmal zu Lesen begonnenes Buch wieder
beiseite zu legen, bevor die Auflösung erreicht war. Somit kann ich für diese Reihe nur eine große Lese-Empfehlung abgeben!

Man kann die einzelnen Bücher zwar auch unabhängig von der Reihenfolge lesen, aber dazu würde ich nicht raten -
Hier die Bände in der richtigen Reihenfolge (1997 – 2022):

Band 1: Der Fledermausmann (engl.: The Bat)
Band 2: Kakerlaken (engl.: Cockroaches)
Band 3: Rotkehlchen (engl.: The Redbreast)
Band 4: Die Fährte (engl.: Nemesis)
Band 5: Das fünfte Zeichen (engl.: The Devil's Star)
Band 6: Der Erlöser (engl.: The Redeemer)
Band 7: Schneemann (engl.: The Snowman)
Band 8: Leopard (engl.: The Leopard)
Band 9: Die Larve (engl.: Phantom)
Band 10: Koma (engl.: Police)
Band 11: Durst (engl.: The Thirst)
Band 12: Messer (engl.: Knife)
Band 13: Blutmond (engl.: Kiling Moon)

 

 

 

 

 

 

 

Der deutsche Titel ist etwas irreführend, denn zwar geht es in der Rahmenhandlung dieses Romans um die Liebe
zu einer jungen Frau in Genua, aber mehr noch um die Liebe zu der Stadt selbst aus der Sicht eines Neuankömmlings.
Der Originaltitel "La Superba" ("die Stolze") trifft es da einerseits etwas genauer, denn "La Superba" ist Genuas Beiname,
andererseits kann damit aber auch gleichsam wieder besagtes Mädchen gemeint sein.

Der Ich-Erzähler und Neuankömmling ist der Autor selbst bzw. dessen alter Ego.
Frisch in seiner neuen Wahlheimat angekommen lässt er sich zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Altstadtgassen treiben,
verbringt Tage und Nächte in Cafés und Bars.
Durch die Beobachtung der Menschen und dem Leben um sich herum lernt er die Stadt und ihre Bewohner
kennen und lieben und macht dabei zahlreiche, teilweise auch etwas skurrile Bekanntschaften, u.a. natürlich mit dem
für ihn schönsten Mädchen von Genua, einer Kellnerin in einem seiner Stammlokale, aber auch mit Raschid, dem aus
Marokko geflüchteten Rosenverkäufer, der zu intelligent zum Rosenverkaufen ist, einem englischen Säufer und
Geschichtenerzähler, einer Kartenleserin, einem Transvestiten, einem Geisterbeschwörer, sogar mit einer
Geistererscheinung, und mit Djibi, einem Flüchtling aus dem Senegal.

Gerade am Beispiel der afrikanischen Flüchtlinge wird deutlich, wie sehr sich die Beweggründe für eine
Flucht oder Auswanderung schon immer geglichen haben - und wie gegensätzlich dazu die Motivation des Protagonisten
war, seiner niederländischen Heimat den Rücken zu kehren. Am anschaulichsten in diesem Kontext ist das Kapitel,
das allein Djibi und seiner Flucht aus dem Senegal gewidmet ist.

Je tiefer der Erzähler in seine neue Welt vordringt, desto mehr verliert er sich auf seinen einsamen Streifzügen
nicht nur im Labyrinth der Altstadtgassen, sondern auch in seiner Phantasie, so dass manchmal weder er noch der
Leser genau zwischen dieser und der Realität zu unterscheiden vermag ...

Neben Djibis Geschichte gefällt mir insbesondere die Episode um den geplanten Kauf eines
kleinen Theaters in der Altstadt.
Und doch ... ein paar Punkte gibt es dennoch, die einen Schatten auf das Ganze werfen:
So zum Beispiel das Kapitel um den Säufer Don. Das war für mich äußerst uninteressant und überflüssig - ich habe es zunächst
quasi übersprungen und am Schluss erst gelesen. Fazit: Darauf hätte verzichtet werden können.
Ebenso die Tatsache, dass der Autor sich insgesamt in zu viele Themen verliert und dazu alles gerne noch mit seiner
eigenen Meinung garniert. Dies ist zwar meist unterhaltsam geschrieben, aber stellenweise wird es dann doch zu viel
und die Anekdote bzw. die Phantasien um ein amputiertes Bein sind nicht nur sehr schräg und bizarr, sondern völlig daneben.
Auch wenn es um Sex und um seine Gedanken in Bezug auf Frauen geht fragt man sich teilweise schon, was das soll,
zumal sich bei Ersterem vorzugsweise einer recht ordinäreren Sprache bedient wird.
Man kann nur hoffen, dass der Protagonist wirklich nur eine Romanfigur bzw. ein Alter Ego ist und nicht der Autor selbst ...;-)

Warum ich das Buch trotzdem gern gelesen habe?
Tja, es ist wohl die Liebe des Autors zum Erzählen und Fabulieren, das macht er nämlich wirklich ausgesprochen gut.
Vor allem auch lesenswert für Genua Kenner oder –Interessierte.

 

 

 

 

 

 

 

"Grand Hotel Europa" ist ein komplexer Roman, dessen Haupterzählfaden der Rückblick auf eine Liebesgeschichte ist,
die gespickt ist mit Gedanken zur Lage Europas zwischen Vergangenheit und Zukunft, zu Flüchtlings- und
Tourismusströmen und zum Thema Reisen und Tourismus an sich.

Erzählt wird die Geschichte eines alternden Schriftstellers, Ilja Leonard Pfeijffer bzw. dessen Alter Ego,
der sich auf unbestimmte Zeit in das einst mondäne, mittlerweile jedoch etwas heruntergekommene
"Grand Hotel Europa" (als Sinnbild des Kontinents) einmietet, um dort sowohl emotional als auch literarisch das Ende
einer Liebesbeziehung aufzuarbeiten.
Hier trifft er u.a. auf den jungen, afrikanischen Hotelpagen Abdul, der nicht gerne über Vergangenheit spricht
und seine eigene lieber vergessen möchte. Für ihn als ehemaligen Flüchtling ist die Zukunft wichtiger.
Ebenso für den neuen chinesischen Investor, der das Grand Hotel Europa aufgekauft hat und nun zukunftsfit machen will,
sprich: Attraktiv für Touristen. Diese Zielgruppe wiederum kommt wegen Europas großartiger Vergangenheit.
Und was macht Europa zwischen erdrückender Vergangenheit und ungewisser Zukunft? - Es vermarktet seine Vergangenheit
wie eine Museums-Attraktion, der Massentourismus und die Zerstörung des Authentischen beginnt.

In einer Mischung aus romanhaftem Erzählen, wohl ausformulierten Dialogen und essayartigen Passagen widmet Pfeijffer
sich stilvoll und intellektuell den o.g. Themen wie in einem ins 21. Jahrhundert katapultierten "Zauberberg".
Interessant, gerade für Liebhaber des Reisens, sind die Beschreibungen und Gedanken zum Themenkomplex Urlaub/Reisen/Tourismus.
Auch wenn ich nicht allen Thesen diesbezüglich zustimmen kann (oder vielleicht gerade deswegen) bieten diese doch
reichhaltig Diskussionsstoff. Zur Veranschaulichung seien hier kurz zwei Beispiele exemplarisch zitiert,
ohne dass ich diese jetzt kommentiere:

<<..."Eines muss man bei Reisen, so wie wir sie machen, unbedingt ablegen, und das ist: zu urteilen ...">> (S. 214),
sagt zum Beispiel ein Weltreisender im Zusammenhang mit einem krassen Erlebnis in Pakistan.

**

<<"Glauben Sie, dass Reisen den Horizont erweitert?"
"Ich glaube, dass Nachdenken den Horizont erweitert."
"Hilft Reisen beim Nachdenken?"
"Wohl ähnlich, wie eine Flucht bei der Lösung von Problemen hilft ..." ... (S. 234)
... "Ich kann nur meine Überzeugung wiederholen, dass Nachdenken den Horizont erweitert, während das Reisen
das Nachdenken eher behindert als anregt.
"...>> (S. 238)

**

Dabei verstrickt sich der Ich-Erzähler augenzwinkernd auch selbst in Kontroversen, z.B. als er (auf S. 278) nach seinem
peinlichen Besuch eines Slum-Viertels in Skopje zu dem Schluss gelangt: "Ich musste endlich damit aufhören, ein
Anstoß erregender Tourist zu sein, und wieder dazu übergehen, an den Touristen Abstoß zu nehmen. Ich musste endlich nach Hause
."
Nicht viele Buchseiten weiter (S. 305) macht er sich darüber Gedanken, dass er für die Verlängerung seiner Goldkarte von
Alitalia dringend weitere Flugmeilen benötigt.

Als konkrete Beispiele einer völligen Auslieferung an den Tourismus, einhergehend mit dem Verlust der eigenen Identität,
werden vor allem Venedig, aber auch Amsterdam, Giethoorn und Cinque Terre beschrieben, die zunehmend ihre eigene
Bevölkerung verlieren und zum Freilichtmuseum bzw. touristischen Freizeitpark mutieren.

Ach ja, und dann ist ja auch noch die Liebesgeschichte, auf die der Schriftsteller im Grand Hotel Europa zurückblickt,
die im wenn schon noch nicht in der Lagune, dafür aber längst im Massentourismus ertrunkenen Venedig spielt.
Doch auch hier geht es nicht nur um seine Liebe zur Kunsthistorikerin Clio, sondern auch um die Liebe zur Geschichte
und zur Kunst, und ja - Sex darf natürlich auch nicht fehlen. Hätte zwar im Kontext des Romans nicht bzw. nicht in
dieser Deutlichkeit sein müssen, aber das kann nur der Autor selbst beantworten.
Wenn dies seine Fantasien sind, hm .... ;-)

Letztendlich laufen am Ende alle Fäden zusammen und ich kann nur sagen:
Ein sehr gekonnt erzählter Roman mit vielen schönen und intelligenten Formulierungen und etlichen
Denk- und Diskussionsanstößen, die in all ihrer Ernsthaftigkeit immer wieder von einem aufblitzenden genialen Humor, einem
Augenzwinkern und einer guten Portion Selbstironie durchbrochen werden.
Von mir eine absolute Lese-Empfehlung!

 

 

 

 

Falko A. Rademacher:

Köln für Imis

 

 
 

 

Bei der Lektüre dieser Köln-Satire mussten wir immer wieder das Buch beiseite legen und einfach loslachen.
Wer die Stadt kennt, weiss, warum. Mit viel Humor und Wortwitz gelingt es Rademacher, die weniger schönen
und skurrilen Seiten der Stadt und ihrer Bewohner beim Namen zu nennen, ohne diese dabei zu denunzieren.
Die Bandbreite der Themen reicht dabei von „der großen Bahnhofskapelle“ (Kölner Dom) über die
„schääl Sick“ bis zum Verhältnis zu Düsseldorf - und natürlich sind auch Klüngel, Kölsch und Karneval
mit von der Partie. Quasi ein „Muss“ für alle (Neu-) Kölner.

 

 

 

 

Juli Zeh:

Über Menschen / About People

 

 
 

 

Ein Buch aus der Corona-Zeit über das Leben auf dem Land, „über Menschen“ und „Übermenschen“

Dora und Robert, beruflich erfolgreiche Mittdreißiger aus dem links-liberalen Berliner Milieu, führen eine glückliche Beziehung.
Bis Greta Thunberg in ihr Leben tritt. Und dann noch schlimmer: Corona. Denn Robert ist ein meinungsstarker
politischer Aktivist, der durch Klimawandel und Corona-Pandemie noch meinungsstärker und rechthaberischer wird
und ihren bisherigen Lebensstil nun politisch korrekt umkrempeln will.

Dora hingegen ist überfordert mit den zahlreichen Problemen der heutigen Zeit, vor allem mit der damit einhergehenden
Überproduktion von Meinungen zu allem, dem gefühlten Zwang, sich zu allem eine eigene Meinung zu bilden,
zunehmend aber auch von Robert, der aus der vermeintlichen Überlegenheit seines Lebensstils keinen Hehl macht.

Kurz entschlossen packt sie ihre Siebensachen, kehrt der Hauptstadt im Corona-Lockdown und ihrer Beziehung den Rücken
und flieht aufs Land, wo sie sich im fiktiven brandenburgischen Kaff Bracken erst vor Kurzem ein altes Haus gekauft hat.
Doch auch die vermeintliche Landidylle hat ihre Tücken:
"Ich bin hier der Dorf-Nazi" begrüßt sie ihr Nachbar namens Gote. Diese Kröte muss Dora erstmal schlucken.
Und sich an die hiesigen Gepflogenheiten in der ostdeutschen Provinz gewöhnen, wo Menschen und Einrichtungsgegenstände
gerne mal unangekündigt im Garten, vor der Türe oder gar im Haus stehen, der Bus wirklich nur zweimal täglich
zum 18 km entfernten Einkaufszentrum fährt und wo schon auch mal ein verbotenes Nazi-Lied gesungen wird.
Dabei wird ausgerechnet eine Mauer zum Ort der Begegnung und Annäherung zweier Menschen, die gegensätzlicher kaum sein könnten.

"In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben" erklärt ihr ein Dorfbewohner.
Denn auf dem Dorf kann man sich halt schlechter ausweichen als in der Stadt. Hier gibt es nur zwei Möglichkeiten:
Entweder Konfrontationen aushalten und mit dem Anderen umgehen – oder wieder gehen.
Doch so schnell will Dora nicht aufgeben – schon gar nicht, wenn sie sich die mögliche Häme ihres Freundes,
ihres Vaters und ihres Bruders vorstellt.

Geschickt verwebt Juli Zeh Doras Geschichte mit den Herausforderungen der gesellschaftspolitischen Situation im heutigen Deutschland:
Den Kulturunterschieden zwischen Stadt und Land, den täglichen Überforderungen unserer Zeit (wie Corona, Klimawandel,
Rechtsextremismus, Rassismus, etc.) und einer Politik, die in den Städten für die Städte gemacht wird.
Aber: „Es geht nicht darum, Widersprüche aufzulösen, sondern sie auszuhalten."
Nicht um die Frage, wer die Guten und wer die Bösen sind – was auch schwierig zu beantworten ist,
wenn der "Dorf-Nazi" einen gepflegten Rasen und liebevoll arrangierte Geranien hat. ;-)
Im Mittelpunkt steht vor allem das (Zwischen-) menschliche, wie z.B. jemandem zu helfen ohne Rücksicht
auf dessen Gesinnung. Um Mensch zu bleiben.

Juli Zeh ist ein toller deutscher Gegenwarts-Roman über Menschen (oder auch Übermenschen) gelungen, der trotz aller
wichtigen und ernsten gesellschaftspolitischen Themen leicht zu lesen, spannend und oft auch
wirklich lustig (z.B. die Situationskomik beim Pfandflaschen-„Problem“ zwischen Dora und Robert),
letztlich aber auch tragisch ist.
Ein kurzweiliges und nachdenklich stimmendes Lese-Erlebnis zugleich.

 

 

 

 

Juli Zeh:

Unterleuten

 

 
 

 

"Unter Leuten" in "Unterleuten" - ein grandioser Gesellschaftsroman aus der deutschen Provinz

Nachdem ich von Juli Zehs Roman "Über Menschen" (2021) so begeistert war, las ich als nächstes
den bereits 2016 erschienenen Roman "Unterleuten". Ein ähnliches Wortspiel im Titel, das Buch mit über 600 Seiten (yeah!)
noch etwas dicker und viel gelobt, ich war mega gespannt!

Zentrum des Geschehens ist auch hier ein fiktives brandenburgisches Dorf, namentlich "Unterleuten", in dem Welten aufeinander stoßen.
Die Geschichte spielt im Jahr 2010 und wird kapitelweise aus der Sicht eines anderen der etwa 10 Hauptprotagonisten erzählt.
Diese setzen sich zusammen aus alteingesessenen Dorfbewohnern mit ihrem von außen undurchsichtigen Beziehungsgeflecht aus
Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft, Feindschaft, Liebe, Schuld, Neid und Hass und zwei Paaren, die aus
Berlin aufs Land gezogen sind, um dort ihre Vorstellung vom ländlichen Leben jenseits der Großstadt zu verwirklichen.

Als eines Tages ein westdeutscher Investor auftaucht und in Unterleuten ein geeignetes Grundstück für Windkraftanlagen sucht,
wird so mancher hellhörig und wittert das große Geschäft, während andere sich dem Projekt widersetzen wollen.
Dabei kochen alte Geschichten und Ereignisse inklusive eines mysteriösen Todesfalls aus der Zeit der Zwangsauflösung
der DDR-LPGs kurz nach der Wende hoch, die die Dorfgemeinschaft aufwühlen und das Dorf zur Schlangengrube mutieren lassen,
da jeder nur an seine Interessen denkt. Dabei kommt dem ländlichen "Dorffunk" eine besondere Bedeutung zu:
Denn da die Dorfbewohner mehr übereinander als miteinander reden, entspricht deren Wahrheit oft nicht dem, was sich
wirklich ereignet hat, sondern ist eine brisante Mischung aus Gerüchten, Geschichten und Verleumdungen,
die zu falschen Entscheidungen und Handlungen führt.

Juli Zehs Motiv zu diesem Roman war u.a. die Frage, wie Verbrechen oder sogar Kriege entstehen.
Denn: Im Grunde wollen fast alle Menschen ja nichts Böses. Aber trotzdem geschieht es. Auch in Unterleuten ...

Ich habe diesen spannenden Roman in Windeseile gelesen, konnte kaum mehr aufhören, und kann nur sagen: WOW!
Ich bin sehr beeindruckt von diesem Werk, das mich mit seiner fesselnden Sprache und Handlung, vor allem jedoch mit
den so echt und lebendig gezeichneten Charakteren in seinen Bann gezogen hat.
Ein wahrlich meisterhafter deutscher Gesellschaftsroman mit großer Tiefe!

Der Roman wurde übrigens 2018 auch verfilmt (3 Teile zu jeweils ca. 90 min.) – das habe ich mir natürlich auch angeschaut.
Und ja – ich finde die Verfilmung sehr gelungen, insbesondere auch die Wahl der Darsteller.
Im letzten Drittel wird allerdings doch in einigen Dingen vom Roman abgewichen – für das Gesamte nicht wirklich schlimm,
aber ich fand es gut, vorher den Roman gelesen zu haben. Aber wer nicht lesen möchte, sollte schauen!

P.S.: Mein ganz persönlicher Lieblingssatz im Roman (S. 576 im Hardcover):
"... Eine kleine Stoffkatze, die so intensiv nach Jule roch, dass sie nur die Nase darin vergraben musste, um sich
auf jeder Bahnhofsbank wie im eigenen Bett zu fühlen."
<3

 

 

 

 

 

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